betül ulusoy

Ich nehme Deutschen den Sitzplatz weg

Er sitzt bei „Deutschland – neu denken – 1. Bundeskongress der Neuen Deutschen Organisationen“ auf dem Podium und erzählt, wie er als Flüchtling nach Deutschland kam und lange Zeit das Gefühl hatte, er würde den Deutschen durch seine Existenz immer etwas wegnehmen: Steuergelder, den Kindergartenplatz, den Uniplatz und ja – auch den Sitzplatz in der Bahn.

Der ganze Saal lacht, auch ich. Herzhaft. Gleichzeitig habe ich das Bild des Mannes vor mir, der mich gestern am Bahnsteig so böse ansah und mir Angst gemacht hatte. Ich hatte mir vorgestellt, zu ihm zu gehen und ihn anzusprechen: „Hey, ich bin Betül. Warum schaust du so? Der Bahnsteig ist doch groß genug für uns beide. Und wenn du Angst hast, ich würde dir den Sitzplatz in der Bahn wegnehmen: Ich überlasse ihn dir gerne und stehe, wenn du möchtest. Können wir Freunde sein?“ Ich hatte also auch diese skurrile Vorstellung, ich würde Leuten ihre Sitzplätze vorenthalten. Kopfkino vom Dümmsten.

Er erzählt auch von seinem Freund, der ihn im Zug immer aufforderte, aufzustehen, wenn Deutsche eintraten. „Warum sollte ich?“, hatte er gefragt. „Na wenn die sehen, dass wir für sie aufstehen, denken sie gut über uns und wir fallen nicht  lästig auf“, erklärte er. Repräsentationszwang vom Feinsten.

In der Kaffeepause kommt sie auf mich zu. Auch bei ihr sind seine Geschichten haften geblieben. Sie erzählt: „Nach 9/11 wollte ich in der Bahn bloß nicht als Muslimin auffallen. Ich habe mich regelmäßig selbst abgeklopft, damit die Leute sehen konnten, dass ich keine Bombe unter meiner Kleidung verstecke.“ Paranoia vom Größten.

Am Ende sagt er: „Irgendwann habe ich mir gesagt: STOP! Was sollen diese Schuldgefühle. Du bist niemandem etwas schuldig, du musst nichts beweisen. Ich gebe diesem Land mehr, als ich nahm.“ Stimmt, denke ich, hör‘ auf mit diesen merkwürdigen Gedanken. Niemand verlangt das von dir. Und Sitzplätze kann man sich schließlich auch teilen. Nicht so dramatisch.

2 Kommentare zu “Ich nehme Deutschen den Sitzplatz weg

  1. Aysegül
    6. Februar 2015

    Toller Beitrag! Weiter so 🙂

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  2. matthias
    7. Februar 2015

    Ich find ja schon diese Kosten Nutzen Rechnung unnötig. Vielleicht gibt es auch Flüchtlinge die bekommen mehr von diesem Land, als sie ihm geben. Das soll auch bei Menschen vorkommen, die seit Generationen hier leben und die haben vielleicht noch nicht mal so gute Gründe dafür.

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 6. Februar 2015 von in Allgemein und getaggt mit , , .