betül ulusoy

Wir müssen alle Igel sein – Vol. I

„Ich habe das nötige Know-How und die Technik und helfe ihnen sehr gern“, erzählt er, „aber weißt du: Ich habe Angst, dass sie sich selbstständig machen, sobald ich ihnen alles gezeigt habe und sie in der Branche Fuß gefasst haben. Ich meine, natürlich kann und soll jeder sein eigenes Ding durchziehen. Aber ich möchte, dass wir uns in einem Netzwerk verbunden bleiben und gegenseitig unterstützen. Ich habe zu oft die Erfahrung gemacht, dass die weg sind, die es schaffen. Dass das Ego größer ist, als der Wille, in diesem Land gemeinsam etwas für Gott und für die Gemeinschaft zu bewegen. Verstehst du, wie ich das meine?“.

Ich verstehe ihn sehr gut. Nicht nur, weil ich ihn gut kenne und weiß, worum es ihm geht. Sondern auch, weil ich das Phänomen kenne. Vor Jahren hatte mich auf einer Tagung eine Unternehmerin überrascht, die mit einem Verband hart daran gearbeitet hatte, Frauen zu Führungspositionen zu verhelfen. Der Plan war: Schafft es eine, schaffen es andere. Die Frauen, denen man gemeinsam geholfen hatte, sollten von oben mit mehr Mitteln und Möglichkeiten ihrerseits helfen, dass andere Frauen nachziehen konnten. Der Plan ging nicht auf. Schafften es die Frauen selbst, vergaßen sie den Rest. Schlimmer noch: Sie übernahmen die Denkstrukturen, die sie vorher den Männern vorgeworfen hatten, waren der Ansicht, andere Frauen wären für diese Posten gar nicht geeignet und wollten sich in der Arbeitswelt dadurch ihren mehrheitlich männlichen Kollegen beweisen, dass sie härter waren, als alle Männer zusammen.

Bevor ich diese Unternehmerin kennen gelernt hatte, hatte ich dieses Vorgehen für eine Migranten-Sache gehalten: Schafft es ein Mensch mit Migrationshintergrund in die große Politik, werden eben manchmal auch die Ellenbogen ausgefahren und so realitätsferne Aussagen gemacht, dass man sich fragt, wie schnell man eigentlich abheben und die schwierigen Verhältnisse wohl vergessen kann, aus denen man stammt und in denen die ursprüngliche Community bis heute verweilt. Waren es eigentlich nicht gute, idealistische Absichten, die einen dazu bewogen, diesen Weg zu gehen? Wenn ich es schaffe, werde ich dafür Sorgen, dass es uns allen besser geht. Wie konnte sich dieses „uns“ derart wandeln?

Ein wenig verstehe ich das. Man lebt in einer ganz anderen Welt, wenn man es geschafft hat. Dort gelten andere Parameter, ganz andere Dinge sind bedeutsam, ganz andere Erwartungen werden an einen gestellt. Es ist befreiend, die Altlast endlich los zu werden, den harten Weg zu vergessen, den man gehen musste, um dort zu sein, wo man jetzt ist. Auch der Blick auf die Community selbst ändert sich: Sollen „die“ doch auch so hart arbeiten, wie man selbst es getan hat; sie sind doch auch selbst Schuld an ihrer Lage und man selbst ist doch nicht verantwortlich dafür; jahrelang hat man seine Zeit und Kraft für „die“ aufgeopfert, jetzt kann man doch auch endlich mal an sich denken dürfen. Doch „die“ sind die, die einen zu dem machten, was man heute ist, die einem den Rücken dann stärkten, als man sie (noch) brauchte, die einen mit Gebeten und lieben Worten immer unterstützt haben, die einem stolz zugejubelt haben, als man es schaffte und die einen auch heute noch als einzige auffangen würden, wenn man von seinem hohen Ross fiele.

Letzte Woche erzählte eine (weibliche) Hoca in der Moschee von einer Mädchengruppe, von der ein paar Mädchen zu ihr kamen und ihr erzählten, dass sie die Gruppe verlassen und eine eigene Gruppe eröffnen wollten. Die anderen Mädchen gefielen ihnen nicht (mehr) – Sie waren beim Lernen nicht so schnell voran gekommen und auch die Charakter missfielen ihnen. Die Hoca erzählte den Mädchen eine Anekdote: Eine Gruppe von Füchsen und eine Gruppe von Igeln kämpften in einem harten Winter ums Überleben. Die Füchse beschlossen, dass jeder seinen eigenen Weg gehen sollte. Allein konnten sie sich aber nicht wärmen und so erfroren sie alle. Die Igel versuchten zunächst auch, allein zurecht zu kommen, merkten aber schnell, dass sie nur überleben konnten, wenn sie zusammenhielten. Sie beschlossen, zusammenzurücken und sich so zu wärmen. Das war beschwerlich und schmerzhaft, weil ihre Stachel sie gegenseitig pieksten, aber sie bissen um des Überlebens willen die Zähne zusammen, rückten immer und immer näher zusammen und erreichten so den Frühling.

Ja, es erscheint manchmal schlau und reizvoll, wie ein Fuchs seinen eigenen Weg zu gehen. Ja, es ist manchmal stachelig und mühsam, an die zu denken, die nicht so privilegiert sind, wie wir. Aber nur gemeinsam sind und bleiben wir stark. Klar, was wir können, können vielleicht andere nicht, aber was andere können, können auch wir nicht.

„Der Beste unter den Menschen ist derjenige, der seinen Mitmenschen am nützlichsten ist“ und:

„Derjenige, der auch nur einen Hauch von Arroganz in seinem Herzen hat, wird das Paradies nicht betreten“, sagt der Prophet Muhammad (s.a.v.). Möge Gott uns nicht (nur) uns selbst, sondern auch unseren Mitmenschen nützlich sein lassen und Arroganz und Eigensucht von unseren Herzen fern halten, insAllah. Einen wundervollen, gesegneten Freitag uns allen.

10 Kommentare zu “Wir müssen alle Igel sein – Vol. I

  1. Myriade
    15. Mai 2015

    Was ist eine Hoca ?

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    • Saxhida
      18. Mai 2015

      Ein weiblicher Iman (sozusagen).

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      • Myriade
        18. Mai 2015

        Danke ! Gibt´s offiziell weibliche Imane oder ist das wie bei den Christen: de facto: ja, offiziell: niemals ?

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      • Saxhida
        18. Mai 2015

        Die erste offizielle Lehrerin war Aisha r.a., die Frau des Propheten s.a.s. Zu seinen Lebzeiten stellten Männer&Frauen ihr Fragen und ebenso nach seinem Tode. Niemand hat das kritisiert oder verboten.

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      • Myriade
        18. Mai 2015

        Aha, interessant ! Aber heutzutage ?

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      • Saxhida
        19. Mai 2015

        Ich verstehe nicht ganz worauf du hinaus willst. In jeder Moschee gibt es eine Frauengruppe mit einer „Lehrerin“. Das ist keine große Sache. Frauen studieren Islamwissenschaften genauso lange wie Männer und auch Bücher schreiben war/ist kein Problem, während anderswo unter männlichen Pseudonym geschrieben werden musste.
        Du musst dir das aber nicht so vorstellen das Aisha r.a. sich auf ein Podium gesetzt hat und die ganze, gefüllte Moshee unterrichtet hat.

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      • Myriade
        19. Mai 2015

        Ja, eben, das hat mich gewundert.
        Ich dachte, dass „Iman“ eine offizielle Funktion ist, also dass es sich da um das religiöse Oberhaupt der Gemeinde handelt, der ernannt oder gewählt oder sonstwie bestimmt wird und dann eine gewisse Autorität über seine Gemeinde hat. Und dass diese Funktion von Frauen ausgeübt werden darf, habe ich eben noch nicht gehört

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      • Saxhida
        19. Mai 2015

        Sorry, vertippt, es heißt Imam.

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  2. Saxhida
    19. Mai 2015

    (Ich wollte noch mehr schreiben aber diese Kommentar-Boxen nerven.)
    Die Geschlechtertrennung gilt es immer zu beachten, auch bei den Universitäten.

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 15. Mai 2015 von in Allgemein.