betül ulusoy

Soll ich den Schwarzen Mann rufen?

Das Geschrei des Kindes hallt durch das Einkaufszentrum, als Mutter und Kind das Geschäft betreten, in dem ich mich gerade umschauen will. „Wenn du nicht still bist, rufe ich den Schwarzen Mann von vorhin! Willst du das?“, droht die Mutter ihrem Sohn auf türkisch. „Nein, ruf ihn nicht“, weint das Kind ängstlich. Ich möchte eingreifen, etwas sagen, aber ich bin so wütend, dass ich nur schreien würde. Ich flüchte aus dem Geschäft. Ich ertrage nicht, wie eine Mutter ihr Kind bändigen will, in dem sie ihm Angst macht – Und dabei auch noch rassistisch ist. Ich bereue noch immer, geschwiegen zu haben. Manchmal stelle ich mir vor, wie diese Mutter Zeugin davon wird, wie eine blonde Frau versucht, ihre weinende Tochter dadurch zum Schweigen zu bringen, in dem sie ihr sagt: „Willst du, dass ich die Frau mit Kopftuch rufe?“ Wäre sie verletzt? Wütend? Empört? Würde ihr das die Augen öffnen?
Andere Zeit, anderer Ort. Wir sitzen in großer Runde zusammen und verbringen einen wirklich schönen Abend. Eine Türkin sagt plötzlich ganz unverholen: „Seit die Araber in die Nachbarschaft gezogen sind, gibt es hier keine Ordnung mehr. Früher war es hier überall sauber und ordentlich. Heute habe ich Angst, mich mit einer Krankheit anzustecken, die die Syrer mitbringen.“ Ich denke, ich höre nicht richtig und verstehe die Welt nicht mehr. Nur zu gut kenne ich die Erzählungen türkischer Gastarbeiterkinder, auch meiner Eltern, von denen sich deutsche Nachbarn gestört fühlten, weil sie dreckig, schmutzig, übelriechend seien. Sie hätten die bestehende Ordnung zerstört. Das hat tiefe Spuren hinterlassen. Eine ganze Generation ist so in dem Wissen groß geworden, dass sie minderwertig und unerwünscht ist. Ich verstehe nicht, wie jemand, dessen eigene Biografie ebensolche Erlebnisse enthält, heute selbst über neu Zugezogene derart reden kann. Eigentlich sollte man doch meinen, dass Empathie für jene Dinge steigt, die man selbst am eigenen Leib erlebt hat. Dass man Dinge, die man als traumatisch wertet, anderen um jeden Preis ersparen möchte. Ich kann nicht verstehen, wie man anderen das antut, was andere einem selbst angetan haben. Diesmal schweige ich nicht. Aber meine Gegenrede fühlt sich an, wie ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Jeder von uns hat Rassismus erlebt, Diskriminierung, Ablehnung. Weil wir „zu schwarz“ oder „zu weiß“ waren, zu klein oder groß, zu dick oder dünn, zu bedeckt oder freizügig, zu jung oder alt, zu gebildet oder ungebildet, Mann oder Frau, homo oder trans. Wir haben es in der Schule erlebt oder am Arbeitsplatz, im Sportverein oder auf der Straße, im Supermarkt oder in der Bahn. Wir kennen alle dieses Gefühl. Wir kennen alle den Schmerz. Also lasst uns alle als Opfer von Ignoranz, Hass, Abgrenzung, Hochmut ein Versprechen geben – hier und jetzt: Wir wollen niemals auch Täter sein!

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 28. September 2018 von in Allgemein.