Das, was Krankenhäuser für mich interessant macht, sind die Menschen, die dort sind oder sein müssen: Egal wie alt oder jung, arm oder reich, gebildet oder ungebildet man ist, welche Sprache man spricht, welche Herkunft man hat – Hier kann jeder landen. Die unterschiedlichsten Menschen gemeinsam in einem Krankenzimmer. Das kann Konflikte bergen – aber auch Chancen.
Leyla, eine Türkin im mittleren Alter, liegt längere Zeit im Krankenhaus. Irgendwann kommt eine weitere Frau in ihr Zimmer, deutsch-deutsch, 74 Jahre alt. Erst hatte die Frau aber gesagt, sie sei 53, dann 65 Jahre alt. Sie leidet nämlich an Amnesie und kann sich an nichts mehr erinnern, weder daran, wie sie heißt, noch daran, wo sie wohnt oder aber, wie alt sie ist. Darum sagt sie mal, sie sei arbeitslos, dann, sie sei Hausfrau und irgendwann, als sie beginnt, sich vereinzelt an Dinge zu erinnern, dass sie einen abgeschlossenen Beruf hat.
Vor Leyla hat sie große Angst. Noch nie ist sie einer Muslimin begegnet. Sie hat nur in den Medien von ihnen gehört, gesteht sie später und dort auch nie etwas Gutes. Darum versteckt sie sich am ersten Tag unter ihrer Decke und guckt nur verängstigt darunter hervor. Sie möchte nicht mit einer Muslimin allein im Zimmer sein, aber sie kann nichts dagegen tun.
Leyla ist eine unglaublich herzliche Frau und sorgt mit der Zeit dafür, dass die Frau auftaut. Sie überredet sie, mit ihr spazieren zu gehen, damit sie endlich unter der Decke heraus kommt und frische Luft bekommt. Die Frau tut Leyla leid. Weit möchte sie aber nicht mit Leyla mitgehen. Sie hat Angst, Leyla könnte sie weglocken und ihr etwas antun. Darum bleibt sie beim Spaziergang immer nur in der Nähe anderer Patienten. Noch vertraut sie Leyla nicht.
Immer mehr gewöhnt sie sich an Leyla und auch an Leyla’s türkisch-muslimische Freundin, die fast jeden Tag zu Besuch kommt. Immer mehr führen sie Gespräche über Gott und die Welt und immer mehr fasst die Frau Vertrauen zu den beiden muslimischen Frauen.
Plötzlich fällt ihr ein, dass sie einen Sohn haben muss, der ein Bauernhof bei Berlin hat. Sie war aus Rheinland-Pfalz auf dem Weg zu ihm, als sie einen Unfall und den Gedächtnisschwund erlitt. Leyla und ihre Freundin wollen helfen und googlen nach dem Sohn. Sie finden seinen Bauernhof, rufen dort an, erreichen seine Ehefrau und sagen ihr, dass die Schwiegermutter schon seit einigen Tagen mit einer Amnesie im Krankenhaus liegt. Innerhalb von zwanzig Minuten ist der Sohn da. Leyla sagt, er muss geflogen sein.
Die Frau – Rose – fällt Leyla um den Hals. Sie kann ihr nicht genug danken für ihre Bemühungen und ihre Unterstützung. Begeistert erzählt sie ihrem Sohn davon, wie gut Leyla ist, wie sehr sie geholfen hat, welche Gespräche sie geführt haben. „Muslime sind doch so lieb“, sagt Rose und meint: „Nie wieder verlasse ich mich darauf, was ich nur aus den Medien kenne“. Rose hat eine Bilderbuch-Entwicklung durchgemacht. Würde ihre Geschichte verfilmt werden, würden alle genervt mit den Augen rollen, weil es so reibungslos zu einem Happy End kommt, dass es schon fast langweilig und kitschig ist.
Auch ihr Sohn bedankt sich herzlich. Er besteht darauf, dass Leyla mit ihrer Familie ihn und seine Mutter auf dem Bauernhof besucht. Als sich Leyla für ihr schlechtes Deutsch entschuldigt, meint er: „Es kommt nicht darauf an, ob du gut Deutsch sprichst, sondern darauf, ob dein Herz gut ist. Du hast mit deinem großen Herzen und wenig Worten so viel erreicht.“
„(Allah,) der Barmherzige erweist dem Barmherzigkeit, der (seinerseits anderen) barmherzig ist. Seid (darum) allen auf Erden barmherzig, dann ist euch barmherzig, Der im Himmel ist.”
– Prophet Muhammad (s.a.v.)
Woher wusste Rose denn, dass Leyla eine Muslimin ist, steht ihr das ins Gesicht geschrieben? Warum denken die Menschen immer in Kategorien? Es gibt überall gute und schlechte, barmherzige und unbarmherzige Menschen. Ist das nicht vollkommen unabhängig von deren Kultur und Religion und Erziehung und Genpool?
Wann können wir Menschen einfach nur Menschen sein…..
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Eine wunderbare Geschichte, die belegt, dass man einander kennen lernen muss, um Ängste abzubauen (und dass das in jedem Alter möglich ist, vorausgesetzt, die Beteiligten wollen das.)
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