betül ulusoy

Respektlos: Er gibt mir nicht die Hand

Eine Gruppe von Menschen steht auf einem Empfang zusammen und hört einer aufgeregt redenden Frau mit kurzem rot-braunem Haar zu: „Er hat mir seine Hand nicht gegeben! Das ist so respektlos gegenüber mir als Frau. Ich habe mich so erniedrigt gefühlt, als meine Hand in der Luft hängen blieb. Das geht in Deutschland wirklich nicht!“. Schließlich fällt ein Name. Ich kenne den Herren, von dem die Rede ist und der Frauen seine Hand zur Begrüßung nicht reicht. Niemals. Ein orthodoxer Rabbi, den ich kenne und schätze. Als ich zum ersten Mal beobachtet hatte, dass er die Geste einer Frau, die ihm die Hand gereicht hatte, nicht erwiderte, hatte mich das auch erst sehr irritiert, dann gewundert, dann schmunzeln lassen.

Irritiert, weil auch ich einer Gesellschaft sozialisiert bin, in der das Handgeben zur Begrüßung und Vorstellung dazu gehört. In New York wurde ich von einem US-Diplomaten in verschiedene Einrichtungen geführt, der mir niemals die Hand gab. Das hat mich sehr gewundert und ich habe mir unendlich viele Szenarien im Kopf zusammengestellt. Hatte er vielleicht sogar etwas gegen Muslime? Am dritten Tag beschloss ich, ihn darauf anzusprechen – ganz direkt, eben auf deutsche Manier. „Sie geben allen die Hand, nur mir nicht. Woran liegt das?“, wollte ich wissen. Ihm war das super peinlich, das konnte man ihm ansehen. Er hat sich mehrmals entschuldigt und erklärt, dass ihm von seiner russischen Mutter anerzogen wurde, auf das Verhalten der Frau zu reagieren: Gibt sie ihm die Hand, zieht er nach. Tut sie es nicht, tut er es auch nicht. Weil ich es nicht tat, tat er es auch nicht. So einfach. Er war einfach der perfekte Gentleman.

Gewundert, warum sich Menschen von „andersartigem“ Verhalten so oft persönlich angegriffen fühlen. Es hat nichts mit mir zu tun, wenn mir ein Rabbi nicht die Hand gibt, nichts mit meinem Wert oder meiner Stellung als Frau. Es ist allein sein Verständnis und sein Ausleben seiner Religion. Das kann ich ganz locker akzeptieren und mein Leben fröhlich weiter leben. Er schadet mir nicht.

Eine meiner großartigsten Mentorinnen ist vor mehreren Jahrzehnten zum Islam konvertiert. Damals heiratete sie einen muslimischen Mann, reiste mit ihm nach Ägypten und lernte seine Kultur kennen. Als sie ein arabisches Pärchen trafen und der Mann beim Gespräch ihr nicht in die Augen sah, fand sie das furchtbar. „Nie wieder treffe ich mich mit diesem Paar, wenn der Mann nicht einmal so viel Respekt und Anstand hat, mir in die Augen zu sehen, wenn er mit mir spricht“, sagt sie ihrem Mann. Der war ganz erstaunt. Für ihn gab es nichts respektvolleres und anständigeres, als einer Frau eben nicht in die Augen zu sehen und ihr womöglich damit zu nahe zu treten. Nicht ansehen bedeutet: Ich rücke dir nicht auf die Pelle und schärfe stattdessen meinen Hörsinn. Heute, so viele Jahre später, irritiert sie das noch immer. Aber heute versteht sie, dass Menschen unterschiedliche Gesten unterschiedlich deuten können. Als wir kürzlich mit meiner Mentorin und einer türkische Verbandsvertreterin, die unter ihrem Kopftuch ein schickes Kostüm trug, zwei muslimische Akteure trafen, von denen einer uns Frauen nicht ansah, war die Verbandsvertreterin ziemlich erbost. Sie sprach von Respekt vor Frauen und erinnerte mich an die Frau vom Empfang.

Ich musste schmunzeln. Auf dem Empfang hatte sich die Frau so aufgeregt, weil sie den Rabbi als Stellvertreter für eine ganze Religion als frauenverachtend empfand. Hier beschwerte sich eine religiöse Frau über einen ähnlichen Umgang. Wussten diese Frauen, wie ähnlich sie sich eigentlich waren? Unsere Grenzen verlaufen eben oft nicht entlang von Religion und Kultur, sondern an Sozialisation.

Natürlich sind wir alle unterschiedlich. Nun kann man sich von anderen Lebensweisen angegriffen fühlen oder sie akzeptieren und leben und leben lassen. Ich war einmal zum Sabbat zu einem jüdischen CEO eines großen Unternehmens eingeladen. Er und seine Frau waren wunderbare Gastgeber und haben alle Details des Gottesdienstes und der Tradition erklärt. Wie gerne hätte ich ein Erinnerungsfoto gemacht! „Normalerweise gern, aber an Sabbat dürfen wir keine elektronischen Geräte nutzen. Fotos sind heute nicht erlaubt“, meinte der Gastgeber. Ich habe mich darüber nicht geärgert, war eingeschnappt oder fand es merkwürdig, zumal ich ja keine Jüdin bin und die Regeln nicht für mich gelten. Im Gegenteil: Ich fand die Offenheit und Konsequenz, mit der er seine Religion ausübte, ohne jemandem damit zu schaden, unheimlich beeindruckend. Davor habe ich großen Respekt!

Ich höre so oft, dass Menschen betroffen sind, weil man(n) ihnen nicht die Hand gibt. Dabei kann das, was für uns respektlos wirkt, für unser gegenüber die größte Form des Respekts sein. Was auch immer der Grund ist: Ein wenig Entspannung täte uns gut. Die Welt dreht sich nicht allein um unsere Bedürfnisse und unsere Empfindungen. Wir können auch Rücksicht auf andere nehmen. Wenn ich einmal nach Polynesien ziehen sollte, würde ich mich auch freuen, wenn man mir dort nachsähe, dass ich niemanden mit einem Nasengruß grüßen möchte.

Ein Kommentar zu “Respektlos: Er gibt mir nicht die Hand

  1. Antara
    6. Januar 2016

    Warum, nun vielleicht weil sie das unbewußt, als Angriff wahrnehmen?
    Denn warum gebe ich einem Fremden die offene. leere rechte Hand? die bei den meisten Menschen dominate Hand, die Hand in der ich eine Waffe führen würde, wenn ich Übels im Sinn hätte.
    Wer mir also nicht die Hand reicht vermittelt mir, das er nicht vertrauenswürdig ist da er die Waffenhand nicht offen zeigt, bei den meisten Menschen läuft so etwas ungewußt ab, Nebenbei den selben Zweck erfüllt das japanische Verbeugen, das Kantana zieht man über Kreuz, das geht aus der Verbeugung schlecht.

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 27. August 2015 von in Allgemein und getaggt mit , , , , .
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