Zwei Flüchtlingskinder rennen an mir vorbei. „Muhammad!“, ruft der eine dem anderen hinterher. „Muhammad“, hallt es in meinem Kopf wieder. „Auch der Prophet Muhammad (s.a.v.) war ein Flüchtling“, denke ich. Er und die ersten Muslime hatten nach langer Zeit der Verfolgung und Folter ihre Heimatstadt Mekka verlassen müssen und waren nach Medina ausgewandert. Die Bedeutung dieser Auswanderung ist für Muslime so tiefgreifend, dass sich gar die islamische Zeitrechnung nach diesem Ereignis richtet.
In Medina angekommen, verbrachte der Prophet Muhammad (s.a.v.) die ersten sieben Monate zu Gast bei Abu Ayyub, bis er schließlich mit seiner Familie in die Wohngebäude der Moschee ziehen konnte. Wie ihm erging es vielen Mekkanern, die geflohen waren. Sie alle wurden von Medinensern aufgenommen und versorgt, die alles mit den Neuankömmlingen teilten: Ihre Häuser, ihr Essen, ihr Vermögen.
Diese Geste der absoluten und wahrhaftigen Geschwisterlichkeit wird unter Muslimen häufig sehr idealisiert wiedergegeben, die Medinenser werden als Heroen dargestellt. Wir schauen zu ihnen auf. Was sie geleistet haben, ist vorbildhaft.
Dabei gab es natürlich auch unter ihnen Konflikte. Einmal hatte ein muslimischer Referent in einem Workshop gefragt: „Glaubt ihr wirklich, die großen Persönlichkeiten aus der Zeit des Propheten hatten nie Schwierigkeiten und Zweifel? Glaubt ihr wirklich, damals gab es keine Konflikte und alle waren sich immer einig? Wir sollten diese Zeit und ihre Menschen nicht idealisieren. Wir sollten aus ihren Konflikten lernen, davon, wie unser Prophet (s.a.v.) ihre Streitigkeiten schlichtete und wie sie gestärkt aus ihnen hervor gingen.“ Ja, natürlich gibt es Disput und Schwierigkeiten, wenn man plötzlich sein ganzes Hab und Gut mit fremden Menschen teilt. Idealisieren müssen wir das nicht. Dennoch sind diese Menschen große Vorbilder, denn sie haben schließlich die schwierige Situation gemeistert und sind zu einer Gesellschaft zusammen gewachsen. Die Kunst liegt schließlich nicht darin, schwierige Umstände klein zu reden, sondern schwierige Situationen zu meistern.
Zu Hause möchte ich über diese Menschen im Qur’an nachlesen. Ich schlage nach und bin erstaunt. Das ist genau unsere heutige Lage, denke ich:
„Und diejenigen, die in der Wohnstätte und im Glauben vor ihnen zu Hause waren, lieben (all jene,) die zu ihnen ausgewandert sind und empfinden in ihren Brüsten kein Bedürfnis nach dem, was (diesen) gegeben worden ist, und sie ziehen (sie) sich selbst vor, auch wenn sie selbst Mangel erlitten. Und diejenigen, die vor ihrer eigenen Habsucht bewahrt bleiben, sind diejenigen, denen es wohl ergeht.“
– Übersetzung des Qur’an (59:9)
Ich wünsche mir, dass auch wir heute in der Lage sind, die Habsucht und Eigensucht abzuwerfen und es schaffen, mit jenen zu einer Gemeinschaft zusammen zu wachsen, die herkommen, weil sie unsere Hilfe brauchen. Ich wünsche mir, dass eines Tages über uns gesagt wird, was die Mekkaner über die Medinenser, die sie aufgenommen hatten, einmal gegenüber dem Propheten (s.a.v.) sagten: „O Gesandter Gottes, wir haben nie ein Volk gesehen, das großzügiger ist, wenn es die Mittel dazu hat, und hilfsbereiter, wenn sie wenig haben, als das Volk unter denen wir uns angesiedelt haben. Sie haben sich um uns gekümmert, und sie haben uns in ihre Gesellschaft aufgenommen und an ihren Freuden in einem solchen Ausmaß teilhaben lassen, dass wir fürchten, dass sie den ganzen Lohn (von Gott im Jenseits) erhalten werden.“ Der Prophet erwiderte: „Nicht solange ihr für sie betet und sie lobt.“
Wie schön es wäre, wenn Muhammad, das Flüchtlingskind, bei uns in Deutschland groß würde und als Erwachsener für uns betet und uns lobt…