betül ulusoy

Wenn das Kopftuchmädchen um ein Haar getackelt wird

Im Sommer trennt die Sportlehrerin die Klasse zwischen Jungen und Mädchen auf. Dann kann sie die Jungen hinaus schicken und die Mädchen trauen sich in der Halle mehr zu. Das ist immer die Zeit, in der auch sie das Kopftuch ablegt und ohne Tuch am Sportunterricht teilnimmt. Plötzlich steht doch ein Lehrer in der Halle und mit einem mal beginnt ein großer Tumult. Alle Mädchen rennen zu ihr. Fast so, als würde sich beim American Football die gesamte Defense auf den Ball stürzen. Nur das Tackeln bleibt aus. Stattdessen bilden die Mädchen, bei ihr angekommen, mit ihren Körpern einen Sichtschutz zwischen ihr und dem Lehrer: „Was suchen Sie hier? Sie hat kein Kopftuch um!“ Nur eines der Mädchen war nicht zu ihr, sondern zielstrebig zur Umkleide gerannt. Nun streckt sie ihr durch die Mädchen-Mauer ihr Tuch entgegen: „Hier, trag das, bis er wieder weg ist!“ Sie hat seit dem Auftauchen des Lehrers nur eine passive Rolle gespielt und weiß gar nicht, wie ihr geschehen ist. Sie findet die ganze Aufregung ihrer Mitschülerinnen zwar etwas übertrieben, freut sich aber sehr über so viel Verständnis und Umsicht. Sie wird noch öfter erleben, dass sich ihre Klassenkameraden mehr um ihre Religion sorgen, als sie selbst. Sie haben viel von ihr gelernt und wollen es umgesetzt wissen. Immer, wenn eine Haarsträhne unter dem Kopftuch raus guckt, steht er immer und immer wieder neben ihr: „Vorsicht, Haarsträhne!“ Genervt schiebt sie das Haar dann jedes mal wieder zurück. Als sie einmal auf Klassenfahrt schon alle im Bett liegen, fällt ihr ein, dass sie das Nachtgebet noch gar nicht gebetet hat und beschließt, es für heute auszulassen. Das ist als Ausnahme OK, findet sie, weil sie eigentlich noch gar nicht beten muss. Sie müsste jetzt noch einmal aufstehen und die Gebetswaschung vollziehen, nur: In der Herberge dürfen sie immer nur zu zweit in die Waschräume und es müsste noch eine Freundin mit ihr aufstehen. Also lässt sie es. „Das kommt gar nicht in Frage“, sagt ihre atheistische Freundin: „Los, hoch mit dir, wir gehen jetzt deine Waschung machen und du wirst beten!“ Widerwillig steht sie auf. Als wieder Ramadan ist, sind wieder alle total neugierig. Nach der zehnten Frage lädt sie ihre Klasse zum Fastenbrechen zu sich ein. Wer möchte, darf sich an diesem Tag auch einmal im Fasten probieren. Es ist wie ein großes Klassen-Experiment und alle sind total aus dem Häuschen. Die meisten freuen sich aber am meisten auf das leckere türkische Essen. So eine Erfahrung werden sie so schnell nicht wieder machen.

Sie kommt ein halbes Jahr verspätet in die Klassengemeinschaft. Am ersten Schultag ist sie so aufgeregt, dass sie sich vor der versammelten Klasse übergeben muss. Das ist ihr so peinlich, dass sie heute noch beschämt und kichernd davon spricht, wenn es um die schöne alte Schulzeit geht. Sie ist die einzige Hinduistin in der Klasse und eine hervorragende Tänzerin. Im Hinduismus ist das Tanzen eine heilige Handlung, dementsprechend wichtig ist ihr das. Weil alle so neugierig sind, lädt sie einmal ihre Klasse zu einem ihrer Auftritte ein. Alle sind absolut begeistert über ihren Ausdruck, ihre Leichtigkeit, ihre Haltung, ihre Würde. Nach dem Tanz wird gemeinsam gegessen – natürlich tamilisch. Und natürlich wird auch darüber gesprochen, was sie im Tanz eigentlich dargestellt hat, über Götter und Göttergeschichten. Ihre Klassenkameraden hören gebannt zu. So etwas werden sie so schnell nicht wieder erleben.

Er ist der einzige Katholik in der Klasse. Zum Religionsunterricht muss er darum immer in die Parallelklasse. Als Einziger fehlt er immer am sechsten Januar. Wenn er am siebten wieder da ist, soll er dann immer erzählen, warum er weg war und wie er gefeiert hat. Alle finden, er hat es gut, weil er einen Tag mehr frei hat. Er wiederum ist der einzige Jude in der Klasse. Immer, wenn es um den Nahen Osten geht, meldet er sich zu Wort und diskutiert so lange, bis alle anderen keine Lust mehr haben. Mittlerweile finden das seine Klassenkameraden anstrengend. Wenn allerdings der Nah-Ost-Konflikt auch in der Tagesschau Thema war, fragt der Lehrer ganz gezielt ihn nach seinem Empfinden. Dann hören alle wieder gespannt zu. Als jemand, der in dieser Region Familie hat, hat er einen ganz anderen Zugang als seine Klassenkameraden. Das erkennen alle als Gewinn.

Er war in seiner Studentenzeit linker Aktivist. Ab und an erzählt er nun als Lehrer seiner Klasse von dieser Zeit, auch davon, dass seine Telefonate abgehört wurden und er immer das Rauschen und auch das Klicken hörte, wenn sich die Ermittler wieder ausklinkten. Diese Zeiten sind zwar längst vorbei, politisch interessiert ist er aber geblieben. Das lässt er auch in seinen Unterricht einfließen, der sich zwar selten am Curriculum, dafür aber oft an der Tagespolitik orientiert. Er polarisiert. Nicht immer sind seine Schüler seiner Meinung. Darum wird in seinem Unterricht nicht selten hitzig debattiert. Danach hat man zwar nicht unbedingt das Gefühl, im Lehrstoff voran gekommen zu sein, sehr wohl aber, endlich etwas fürs Leben gelernt zu haben. Obwohl er als Lehrer wegen seiner persönlichen Ansichten nicht den besten Ruf genießt: Seine Unterrichte werden insgeheim geliebt.

Sie ist evangelische Religionslehrerin. Ihr Kurs besteht aus einer Muslimin, einer Hinduistin und fünf Atheisten. Was soll sie machen, das ist eben Berlin. Das heißt, sie macht schon etwas: Richtig guten Unterricht. Selbstverständlich wird aus der Bibel gelesen. Alles darf aber kritisch hinterfragt, Parallelen zu anderen Religionen gezogen werden. Bei ihr kommen die Schüler zum ersten Mal mit Nietzsches „Gott ist tot“ in Berührung und führen die wohl spannendste Diskussion ihrer Schulzeit.

Sie ist eine Lehrerin mit Kopftuch. In ihrer Klasse ist auch eine muslimische Schülerin, die sich über sie besonders freut. Erst kürzlich hatte ihr ihre Schulleiterin gesagt, sie würde ein „Sche*ßkopftuch“ tragen. Vielleicht wird sie sich das nicht mehr trauen, wenn im Lehrerzimmer auch der Einfluss einer Muslimin herrscht. Jemand auf Augenhöhe. Als eine Lehrerin befürchtet, ein Mädchen aus ihrer Klasse könnte das Kopftuch unfreiwillig tragen, fragt sie ihre Kollegin um Rat. Sie ist später auch beim Elterngespräch mit dabei. Als der Vater einer Lehrerin mit Kopftuch gegenüber sitzt, ist er plötzlich gewillter, zu akzeptieren, was sie sagt. Zuvor hatte er oft Angst, aber sie kann ihm nichts böses wollen, weil auch ihr offenbar ihre Religion wichtig ist. Als einer anderen Schülerin ihre Lehrerin sagt, sie dürfe Deutsch nicht als Leistungsfach wählen, weil sie kein deutsches Elternhaus habe und es auch sonst zu nichts großem bringen wird, geht sie geknickt in den nächsten Unterricht. Dort unterrichtet die Lehrerin mit Kopftuch. „Nein!“, sagt sie: „Nein, auch ich kann es zu etwas Großem bringen. Ich werde es schaffen, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen“.

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In diesem Eintrag ist allein die Lehrerin mit Kopftuch eine Fiktion. Sie ist in einer Schule mit (ohnehin) vielfältiger Schüler- und Lehrerschaft ein zusätzlicher Gewinn, ein wichtiger Schritt für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft und im Umgang mit dem vermeidlich Fremdem. Das haben bereits viele Lehrer erkannt, die sich, weil sie ihnen intern fehlen, extern Muslime für Seminare und Workshops an die Schulen holen. Diese Tage sind oftmals eine große Bereicherung, weil sie so viel authentischer und lebensnaher sind, als jede Dokumentation oder jeder Zeitungsartikel. Und soll Schule nicht auf „das Leben danach“ – Vielfalt und Konfliktmanagement – vorbereiten?

7 Kommentare zu “Wenn das Kopftuchmädchen um ein Haar getackelt wird

  1. Oya Bora
    16. April 2015

    👏🏽

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  2. Myriade
    16. April 2015

    Ja, klingt gut.
    Was mir auf diesem wie auf vielen anderen „islamischen“ blogs, Webseiten, Zeitungsartikel etc abgeht, ist hin und wieder einmal ein kleiner Hinweis darauf, dass auch Muslime anderen Weltanschauungen ein Minimum an Verständnis, Interesse und Toleranz entgegenbringen. Über Hinweise würde ich mich freuen

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    • Betül Ulusoy
      16. April 2015

      Liebe Myriade,
      du kommentierst gerade unter solch einem ‚Hinweis‘ – schließlich sitzt in all diesen Beispielen auch die Muslimin in der Klasse und hört ihrem jüdischen Mitschüler zu, fragt ihren katholischen Mitschüler nach seinem Feiertag, sieht ihrer hinduistischen Freundin beim Tanzen zu und diskutiert mit ihr über ihre Vorstellung von Gott und nimmt nicht zuletzt am evangelischen (!) Religionsunterricht teil.
      Man muss empfänglich sein für ‚Hinweise‘.
      Danke für deine Frage und beste Grüße

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      • Myriade
        16. April 2015

        Ja, so betrachtet habe ich mich in die Situation nicht genug hineingedacht. Danke für die Antwort !

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  3. JOS
    17. April 2015

    Schöne narrative Erzählung. Ich lese deine Beiträge immer mit großer Begeisterung. Das hat mich inspiriert auch einen Blog zu führen. Ist es möglich, zu dir Kontakt per Email herzustellen? Ich wäre sehr schön, wenn wir uns zu Blogbeiträgen austauschen könnten.
    Salam, Josi

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    • ws
      17. April 2015

      DAS buzzword ist seit einiger Zeit das Narrativ, ausgebrütet an amerikanischen Universitäten (wo es ja Platz für jeden Schwachsinn hat). Menschen treffen sich und erzählen sich was – ob im Clubsessel oder am Beduinenlagerfeuer. Ich verstehe ja, dass man die Menschen dort abholen soll, wo sie sind, aber manchmal ist es mit Geschichtenerzählen und dem Spinnen von Visionen nicht getan. Verstand und Analyse sind weiterhin unverzichtbar.
      Nebenbei: Eine narrative Erzählung, das ist sowas wie ein weißer Schimmel, also ein Pleonasmus.

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  4. gabi m. auth
    17. April 2015

    Großartig wie die Kraft, die Schönheit und der Sinn der Vielfalt hier erfasst sind. Ich weiß nicht, warum das Kopftuch so ein heikles Thema ist. Meine Großmutter trug immer Kopftuch, sie trug es anders als eine Muslima, so ein Dreieck, das vorne unter dem Kinn geknotet war. So viele Frauen ihrer Generation und auch der Generationen davor, trugen es. Ich weiß nicht, wie lange es zurückliegt, dass es bewusst ein Zeichen des Glaubens war. Die Praxis bezog sich auf einen Satz des Paulus in der Bibel, dass die Frau in der Gemeinde ihr Haupt bedecken solle. Es war weder freiwillig, noch unfreiwillig, sondern selbstverständlich. Meine Großmutter hörte, wie viele Frauen, irgendwann damit auf. Sie ging auch nicht mehr in die Kirche. Sie hatte für sich entdeckt, dass sie ihrem Gott im Herzen dienen kann und er dort bei ihr ist. Auch das war Vielfalt und Freiheit.

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 16. April 2015 von in Allgemein und getaggt mit , , .
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