Ich renne wie eine Verrückte. Fastend und unter strahlender Sonne. Eine Kombination, die sich eigentlich nicht gut verträgt, aber der Sprint schüttet ordentlich Endorphine bei mir aus und ich muss die ganze Zeit beim rennen grinsen und immer wieder laut lachen. Nur wenn ich anhalten muss, merke ich, wie sich mir der Kopf und Magen drehen. Aber das ist gerade egal. Wichtig sind im Moment nur die Kinder, die hinter mir her rennen. Genauer gesagt hinter der Schnur, die ich beim Rennen hinter mir herziehe. Die Schnur hat ein Knäuel am Ende, unser Schlangenknopf. Das Kind, das sich als Erstes den Schlangenknopf erkämpft, gewinnt. Wir rennen ächzend und lachend um den gesamten Platz. Vielleicht nicht unbedingt eine Situation, die besonders erzählenswert wäre, möchte man meinen. Aber diese Szene ist sehr besonders. Denn die Kinder rennen alle mit Krücken, Bandagen und Schienen. Und sie rennen schnell. Als ich auf diese Kinder traf, wollte ich sie am liebsten alle in die Arme schließen, war übervorsichtig, ängstlich und hatte Sorge, sie könnten sich weh tun. Doch diese Kinder wissen genau, was sie können und was nicht und sie können viel mehr, als man glauben mag. Mit Krücken so schnell laufen zum Beispiel, dass ich als gute Sprinterin aus der Puste komme.
Diese Kinder sind Kinder aus Krisen- und Kriegsregionen. In Afghanistan, Angola, Tadschikistan und Gaza etwa haben sie so schwere Verletzungen erlitten, dass sie in ihren Heimatländern keine ausreichende medizinische Versorgung erhalten können. Diejenigen von ihnen, die eine Überführung überleben können, werden nach Deutschland gebracht, hier bundesweit in Krankenhäusern behandelt, im Internationalen Friedensdorf in Oberhausen nach ihren Operationen rehabilitiert und anschließend in ihre Heimatländer zurück gebracht. Was sich in einem Satz niederschreiben lässt, benötigt in Wirklichkeit eine ganze Maschinerie an zum großen Teil ehrenamtlichen Helfern und Spendern. Von den Betreuern und Krankenpflegern vor Ort, über Personal an Board der Flugzeuge, Gebühren für die Maschinen am Flughafen, Ärzte für die Operationen, Kosten für die Krankenhausaufenthalte, Krankenschwestern, Betreuer und Therapeuten im Friedensdorf, Gärtner, Elektriker, Köche – sie alle setzen sich nach ihrem Vollzeitjob, aber auch als Studenten und Rentner für diese Kinder ein. Kinder, zwischen ein und elf Jahren, die mit großen Schmerzen und schweren Verletzungen in ein Land kommen, das sie überfordert, dessen Menschen, Kultur und Sprache sie nicht kennen und in dem sie Monate oder Jahre ohne ihre Familien verbringen müssen. Familien, für die Deutschland ihre letzte und einzige Hoffnung ist. Letztes Wochenende nun durfte ich ein wenig Zeit mit diesen wunderbaren Kindern verbringen.
Natürlich können diese Begegnungen auch schmerzhaft sein. Den angolanischen Jungen zum Beispiel, der sich immer auf meinen Schoß setze und meine Hände in seinen verschloss, werde ich genau so ewig in Erinnerung behalten, wie das zweijährige Mädchen mit den süßen Zöpfen, dass sich unendlich lang von mir in die Arme schließen ließ und ehe ich es verhindern konnte ihren Mundschutz runter zog, um mich zu küssen und freudig zu strahlen. Sie brauchen Wärme und Zuneigung und es zerbricht einem das Herz. Wie gern hätte ich so lange Arme, dass ich sie alle umarmen könnte, bis ihre Mütter sie wieder bei sich haben können.
Einmal gehe ich zu einer Gruppe von angolanischen Mädchen, die ein wenig abseits Perlenarmbänder basteln und Musik hören. Ich unterhalte mich mit ihnen und zeige ihnen die Einstellungen meiner Kamera. Interessiert machen sie Fotos – von allem – auch Portraits von mir. Ich sehe traurig und nachdenklich aus auf einem Foto und lache herzhaft auf einem der anderen. Sie spiegeln wunderbar meine Gefühle zwischen Trauer und großem Glück und Freude in diesem Dorf wieder. „Jetzt bin ich dran“, meine ich und mache auch ein paar Fotos. „Möchtest du auch eins?“, frage ich schließlich ein Mädchen, das die ganze Zeit sehr still war. Sie ist das Opfer einer Gasexplosion
und hat sehr schwere Brandverletzungen und Narben im Gesicht, ihr linkes Auge ist erblindet. Sie schüttelt langsam ihren Kopf. „Sie ist hässlich“, kichern die anderen Mädchen. Mir blutet das Herz.
Solche Situationen sind die Ausnahme hier. Die Kinder sind alle wie Geschwister. Streitereien über Spielzeuge gehören genau so zu ihrem Alltag wie das gemeinsame Spielen und Basteln. Wenn ein Kind einmal weint, wissen die anderen genau, ob es gerade nur trotzig ist oder schmerzen hat und Trost oder Hilfe braucht. Im ersten Fall ignorieren sie das Kind, im zweiten sind alle sofort zur Stelle. Die Kleinen mit Beinverletzungen, die nicht eigenständig laufen können, werden in Kinderwagen von Kindern geschoben, die kaum älter sind als sie selbst. Jeder hat hier seine Gruppe, die ihn auffängt und gemeinsam sind sie eine große Schicksalsgemeinschaft.
Mit einer Gruppe von Mädchen spiele ich Seilspringen, was sich bei meiner Körpergröße schwieriger erweist, als gedacht. Irgendwann begnüge ich mich damit, nur das Seil gemeinsam mit einem zuckersüßen afghanischen Mädchen im Rollstuhl zu drehen, damit die anderen springen können. Die anderen sind nicht selten kleine Mädchen mit Hüftverdrehungen und Schienen an den Beinen, die locker mal dreißig oder vierzig Sprünge schaffen. Wie sie das schaffen? Keine Ahnung. Sie sind einfach beeindruckend und voller ansteckender Lebensfreude und Energie. Darin unterscheiden sich Kinder auf der ganzen Welt wohl nicht. Vollends aus dem Häuschen bin ich, als zwei Mädchen plötzlich anfangen, ihre Sprünge auf Türkisch zu zählen. Gut, Usbekisch, aber plötzlich „türkische Zahlen“ dort zu hören, ist so unerwartet, dass ich fast wieder begonnen hätte, mitzuspringen.
Ein anderes Mädchen im Rollstuhl, das aus Tadschikistan stammt und sechs Sprachen spricht, mega süß und mega intelligent ist, hervorragende Flechtfrisuren zaubert und mit dem ich mich oft unterhalten habe, fragt mich einmal, woher ich komme. „Aus Berlin“, sage ich, ohne zu überlegen. „Aus der Türkei?“, frage sie. „Ja“, sage ich kurzerhand, „warum?“. „Weil, du siehst nicht aus wie eine Deutsche. Warum sagst du, dass du aus Berlin kommst?“, fragt sie und ich muss lachen.
All diese Kinder und Eindrücke werde ich niemals vergessen. Dieses eine Wochenende war so prägend und so wichtig – Vor allem im Ramadan. Glück und Dank gewinnen plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Und ich bin dankbar…
Dankbar bin ich Gott auch, dass ich Mirza und Shukrullah kennenlernen durfte. Zwei ganz besondere Jungen aus Afghanistan und Usbekistan, die beide elf Jahre alt sind. Mirza erzählt, dass die angolanischen und afghanischen Kinder manchmal nicht miteinander spielen wollen – weil die einen Muslime, die anderen Christen seien. „Aber wir sind doch alle Menschen“, meint Mirza. Später erzählt er, dass ihm sein Vater in Afghanistan ein Tesbih (Gebetskette) gebastelt und mitgegeben habe, außerdem ein Cevsen (Kette mit Koranversen). Viele Kinder tragen hier solch eine Kette. Ihre Eltern haben sie ihnen umgebunden. Es ist das einzige, was die Kinder aus der Heimat haben. Mirza wurden seine Ketten noch vor der Abreise vom Personal abgenommen. Er hat sie nicht wieder bekommen. Er erzählt wehmütig von ihnen und meint dennoch: „Aber die Verse sind in meinem Kalp“ und deutet auf sein Herz. Einige Kinder wollen uns Koranverse vorlesen. Die Stimme eines der Kinder hallt mir immer und immer wieder noch auf der Heimfahrt im Zug nach. Die Erinnerung ist wunderschön und emotional und so muss ich vor Freude und Sehnsucht nach den Kindern mit den Tränen kämpfen. Shukrullah spricht für uns den Ezan (Gebetsruf). Manchmal bleibt er hängen und wird verlegen. Später liest er eine Sure vor. Fließend und schön. Jetzt ist er wieder zufrieden. „Wir wissen gar nicht, wo hier die Qibla (Gebetsrichtung) ist“, sagt er zwischendurch mit großen Augen und verzweifeltem Gesichtsausdruck. Er sieht so süß aus dabei. Ein japanischer Mitarbeiter hatte versucht, es mit ihm herauszufinden, doch es hatte irgendwie nicht geklappt. Das lassen wir uns nicht zwei mal fragen. Alle stehen von dem Steinboden auf dem Dorfplatz auf, auf dem wir saßen und halten Ausschau nach Mekka. Es ist gerade Mittag, die Sonne steht in Zenit und die Suche muss so nicht lange dauern. Shukrullah ist zufrieden. Unser erstes Zusammentreffen mit ihm hatte sich schon magisch angefühlt. Er hatte mich eine Weile beobachtet und als ich einen Augenblick alleine auf dem Platz stand, kam er schüchtern und lächelnd zu mir. Ein wunderschönes, einnehmendes Lächeln. Shukrullah versteht viel deutsch, kann sich aber noch nicht so richtig ausdrücken. Die meiste Zeit lächeln wir uns darum glücklich an, während ich versuche, ihm irgendwie Antworten auf meine vielen Fragen zu entlocken. Später kommt ein afghanischer Junge dazu. Er sagt etwas zu Shukrullah und ich weiß, dass er über mich gesprochen hat. Ich bitte Shukrullah, zu übersetzen. Er ist sofort peinlich berührt und wird rot. Dann sagt er lachend: „Yahsi (Hübsch)“. Als die Zeit zum verabschieden kommt, bin ich gerade dabei, Shukrullah ein Armband zu basteln. Die Zeit reicht nicht, doch mir fällt ein, dass ich ein fertiges in meinem Koffer habe. Wieder renne ich wie verrückt, hole das Band und reiche es ihm völlig aus der Puste. Wieder wird er rot, fällt mir um den Hals und umarmt mich. Ganz fest.
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Das Internationale Friedensdorf kann von Gruppen an Wochenenden nach vorheriger Anmeldung besucht werden.
Das Internationale Friedensdorf nimmt Sach- und Geldspenden an. Vielen Dank an die Sehitlik Moschee Jugend für ihre Spenden!
Kinder, die sich noch nicht in der Reha im Internationalen Friedensdorf befinden, sondern noch zur Behandlung in den Krankenhäusern im gesamten Bundesgebiet verteilt sind, können vor Ort besucht und betreut werden. Ein Betreuungsschein, das in einem Wochenendseminar erworben werden kann, ist erforderlich.
Jegliche Hilfe kann nur auf Grund der Initiative von Menschen erfolgen, die sich aktiv einsetzen wollen. Ein deutsch-palästinensicher Apotherkerverbund engagierte sich beispielsweise dafür, dass Kinder aus Gaza im Rahmen des Internationalen Friedensdorf Projekts unterstützt wurden.
Jeder von uns kann etwas tun.
Alle Infos zum Internationalen Friedensdorf erhaltet ihr unter: http://www.friedensdorf.de
Sehr liebevoll, ansprechend und intelligent erzählt.
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Herzzerreißende Geschichte! Schön dass es so eine Initiative wie das „Friedensdorf“ gibt – und auch schön, dass es so tolle Menschen wie SIE gibt!
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