Srebrenica. Es gibt Themen, die möchte man lieber aussparen. Sie gehen einem so nah, dass man ohnehin keinen klaren Gedanken fassen oder etwas hilfreiches oder bereicherndes sagen könnte. Srebrenica. Das ist für mich ein todtrauriges, hoch emotionales Thema, ein Schandfleck unserer Geschichte.
Aber dann erreicht mich die Nachricht einer jungen Bosnierin, die mich bittet, doch über Srebrenica zu schreiben. Was macht man, wenn man von Betroffenen gebeten wird, die gegen das Vergessen ankämpfen?
Srebrenica. Ein unvorstellbares Leid unserer Geschichte. Die Geschichte der Zerstörung der Körper tausender Jungen und Männer durch Massenmassaker und die Geschichte der Zerstörung der Seelen tausender Mädchen und Frauen durch brutale und systematische Vergewaltigung. Mitten in Europa, nicht nur unter den Augen von UN-Soldaten, sondern unter den Augen von uns allen.
Srebrenica geht mir vielleicht deshalb so nah, weil dieses unvorstellbare Leid im Grunde keine Geschichte ist, sondern Gegenwart. Abertausende bosnische Familien kämpfen noch heute mit den direkten Folgen des Genozids und Bosnienkrieges. Familien ohne Söhne, ohne Männer, ohne Väter. Frauen und Mütter, die mit den Folgen leben müssen. Kinder, die in den Vergewaltigungslagern gezeugt wurden und heute unwesentlich jünger sind als ich, oft verlassen, immer zerrissen. Wer versucht, sich nur einen ganz kurzen Augenblick in diese Menschen hineinzuversetzen, den zerreißt es auch.
Srebrenica geht mir vielleicht deshalb so nah, weil ich viele Bosnier kenne, schätze, liebe, die diese Geschichte ihre eigene nennen, oft geflohen, manchmal um vergessen zu können. Aber die Erinnerung an Krieg lässt sich leider nicht so einfach abschütteln. Ein Freund erzählte mir kürzlich fast beiläufig, dass er keine Fotos von seiner Kindheit hat. Ihr Haus in Bosnien war im Krieg bis auf die Grundmauern abgebrannt worden. Nichts blieb zurück. „Ich habe ein einziges Foto von damals. Im Hintergrund unser zerstörtes Haus“, erzählt er. Ich habe dieses Foto nie gesehen. Dennoch hat es sich so in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich es niemals vergessen werde. Es ist banal, vor diesem Grauen lächerlich, aber für mich ist allein die Vorstellung, meine Kindheitsfotos würden zerstört, schon sehr traurig. Diese Menschen hatten nichts mehr.
Srebrenica geht mir vielleicht deshalb so nah, weil ich mich unweigerlich daran erinnere, jedes Mal, wenn ich eine meiner Lieblingsmoscheen betrete. Die Bosnische Moschee in der Adalbertstraße in Berlin ist für mich eine Vorzeigemoschee von Vorzeigemuslimen. Mühevoll und jahrelang haben sie mit Geduld, Engagement und Intelligenz ihr Kulturzentrum aufgebaut, mit Gebetsraum, Klassenräumen, Seminarräumen, Bibliothek. Bosniaken haben eine eigene und etwas andere Gastfreundschaft und Herzlichkeit als andere Muslime, finde ich. Eine, die mir sehr gefällt. Ich bin immer so glücklich in dieser Moschee und stolz auf ihre Gemeinde, die so unglaublich engagiert ist. Sie erinnern mich manchmal an Bienen, fleißig, organisiert, konzentriert. Das Bild der Biene passt vielleicht ganz gut. Schon Einstein warnte vor den Fatalen Auswirkungen des Rückgangs des Bienenbestands und knüpfte das Schicksal der Bienen an die der Menschen. Für mich ist das Schicksal Srebrenicas mit unsere Menschlichkeit verknüpft. Vergessen wir Srebrenica, verlieren wir unsere Menschlichkeit.
Es ist bezeichnend, dass mir der Vorsitzende eben jener Moschee meine erste Srebrenica-Gedenkblume schenkte. Seit dem steckt sie auf meiner Brust, über meinem Herzen. Genau dort, wo sie hingehört also. Elf Blütenblätter. 7/11. „Die grüne Mitte steht für Leben. Denn sie haben es nicht geschafft, uns alle umzubringen“, sagt eine Bosniakin in einem Bericht. Ich muss schlucken. Mich erinnert die grüne Mitte stets an Trauer, so, als stünde jedes einzelne Häkchen des Häkelgarns für einen ermordeten Menschen. Die Särge werden in Bosnien mit grünen Tüchern bedeckt. Ich sehe die hunderten aufgebahrten grünen Särge vor meinem inneren Auge. Auch dieses Jahr wurden wieder 136 neu identifizierte Opfer in diesen grünen Särgen beigesetzt. Wie jedes Jahr. 20 Jahre ist es nun her und das Leid hört nicht auf. Weiße Blütenblätter. Weiß, so sauber und rein wie die Mütter, die diese Blumen stricken. Die Mütter, die mit ihren weißen Tüchern jedes Jahr ihre Lieben besuchen, mit ihren weißen Tüchern die grünen Särge umgarnen… Ein Bild, das eigentlich jedes weitere Wort erübrigt, auch weil man so aufgewühlt und traurig ist, dass man kein weiteres Wort mehr sprechen kann.
Srebrenica geht mir vielleicht deshalb so nah, weil es ein Genozid vor erst 20 Jahr Mitten in Europa ist. Unter unser aller Augen. Vielleicht macht mir Srebrenica ein mal mehr bewusst, wie viel Grauen auch heute noch auf der Welt stattfindet. Während wir gerade erinnern und gedenken, findet im selben Augenblick ähnliches Leid statt. Gerade jetzt. Unter unser aller Augen. Was erkennen wir in 20 Jahren als Genozid an, während wir heute schweigen? Wem gedenken wir dann? Srebrenica ist deshalb so wichtig, weil uns Srebrenica die Augen öffnen soll, uns erinnern soll. Im hier und heute. Srebrenica ist nicht Geschichte. Leider.