72 seiner Gefährten und ein Großteil seiner Familie wird abgeschlachtet, geköpft und verunstaltet.
Auch er wird enthauptet. Sein Kopf wird auf einem Silbertablett platziert und dem Anführer gebracht. Mit einem Stock stochert dieser an seiner Nase und seinem Mund herum. Dabei macht er Bemerkungen zu den attraktiven Gesichtszügen des Kopfes auf dem Tablett vor ihm. Dann wird sein Kopf und die seiner Gefährten aufgespießt. Mit den Speeren kehrt das Heer auf einem fast 1000 Kilometer langen Siegesmarsch in seine Heimat zurück. Die Körper werden zurück gelassen. Drei Tage rotten sie unter der Sonne vor sich hin.
Die Grausamkeit und die Abartigkeit dieser Schlacht könnte beinah einem schlechten Hollywood-Streifen oder gar einem IS-Video von 2015 entstammen; und doch hat sich diese Geschichte real vor 1335 Jahren ereignet. Damals wurde Hussain bin Ali, Sohn von Fatima az-Zahra, Tochter des Propheten Muhammad (s.a.v.) und Ali ibn Abi Talib, der vierte Kalif, sein Leben genommen.
Ich wusste, dass Hussain ermordet wurde. Jedes muslimische Kind weiß, dass beide geliebten Enkel des Propheten Muhammad (s.a.v.) ermordet wurden. Was genau dazu führte, wie die Ereignisse waren, wie ihr Tod war, das wissen aber die wenigsten von uns. Schockiert starre ich auf mein Handy. Auf so viel Grausamkeit und Hass war ich nicht vorbereitet.
Auf meinem Handy ist ein Artikel geöffnet. Gestern hat ihn mir eine meiner besten Freundinnen geschickt. Lange Zeit hatte ich anfangs nicht gewusst, dass sie Schiitin ist. Nicht, dass das für mich von großer Bedeutung wäre, aber es hatte mich dennoch überrascht, als ich es erfuhr. „Bitte lies ihn [den Artikel], das liegt mir sehr am Herzen.“, schreibt sie in der Nachricht. Der Artikel beginnt mit einem Satz, der mich betroffen macht und fragen lässt, warum mir meine Freundin so etwas schickt. „Ich bin Sunnite und ich trauere im Muharram [der erste Monat im muslimischen Kalender, in dem auch Hussain starb]“, steht dort. Das hört sich fast so an, als sei es normalerweise für Sunniten unüblich, im Muharram um Hussain zu trauern. Will sie mir absprechen, dass auch ich natürlich um ihn trauere, dass er ihr wichtiger ist, als mir? Soll ich auch klarstellen müssen: Ich bin Sunnitin und ich trauere im Muharram?
„Ja“, sage ich, nachdem ich den Artikel zu Ende gelesen habe. Sie hätte jedes Recht dazu, das zu behaupten. Was weiß ich schon über ihn?
Wenn ich an Hassan und Hussain denke, habe ich immer das Bild von zwei Kindern vor Augen, die ihrem Großvater, dem Propheten Muhammad (s.a.v.) während des Gebets auf den Rücken klettern, zwei Kinder, die der Prophet innig liebt, selbst während seiner Predigten auf dem Schoß hat, die er küsst und damit den einen oder anderen Gefährten irritiert, zwei Kinder, die ihrem Großvater eilig seine Sandalen bringen. Hassan und Hussain habe ich immer als Kinder in Erinnerung, als seien sie niemals erwachsen geworden. In unseren sunnitischen Moscheen lernen wir als Kinder das Leben des Propheten und tun so, als sei islamische Geschichtsschreibung mit seinem Tod beendet. Wir lernen allenfalls noch die Namen der vier Kalifen auswendig. Aber was ist mit dem fünften Kalifen Hassan und was mit Hussain?
Ja, am 10. Muharram gedenken wir jedes Jahr, wie unsere schiitischen Geschwister auch, dem Tod von Hussain. Aber wie kann man etwas gedenken, von dem man kaum etwas weiß?
Wenn wir fünf Mal täglich im Gebet den Segenswunsch auf den Propheten (s.a.v.) und seine Familie sprechen, was wissen wir eigentlich über diese Familie?
Die Schlacht bei Karbala, der Schandfleck muslimischer Geschichte, sollte dabei für uns alle eine Lehre sein. Eine Lehre, die wir durch das Schicksal einer so bedeutenden Person wie Hussain erhalten, gerade weil sie so wichtig ist. Schließlich musste er sterben, weil die Bani Ummayah sich unrechtmäßig selbst zu Kalifen ernannten. Menschen, die für sich beanspruchten zu beten und zu fasten. Eine Arme, die den Großvater des Mannes verehrte, den sie ermorden und enthaupten. Eine Armee, die behauptete, Gott und seinen Gesandten zu lieben, behauptete, auf dem islamischen Pfad zu sein und gleichfalls den Enkel des Propheten hinrichtete. Hatte der Prophet (s.a.v.) doch gesagt: „Wer sie [Hassan und Hussain] liebt, der liebt mich und wer sie hasst, der hasst mich.“ Gibt es nicht auch heute Menschen, die sich Muslime nennen, mit der Zunge Liebe zu Gott und seinem Gesandten bezeugen, mit ihren Taten Gottes Gebote und das Vorbild des Propheten aber verraten? Ihre eigenen Geschwister abschlachten? Die Geschichte von Hussain scheint heute aktueller denn je. Die Frage ist nur, ob auch wir mit Entschiedenheit gegen Grausamkeit und Gewalt im Namen unserer Religion und unseres Propheten einstehen, wie es Hussain einst tat.
Hussain wurde am 10. Muharram 33 mal von einem Speer, 34 mal von einem Schwert und über 100 mal von einem Pfeil getroffen. Dennoch sagte er: „Ich wünsche bei Gott nur, dass er sie mit Vergebung überschütten möge.“ Wir müssen unserem Prophetenenkelsohn den Respekt zollen, den er verdient. Mehr, als wir es tun. Auch als Sunniten.