betül ulusoy

Perfekt integriert: Der besorgte muslimische Bürger

In einer Straßenbefragung auf der Karl-Marx-Str. Mitten im multikulti Bezirk Neukölln gehen Reporter der Frage nach, was Anwohner davon hielten, dass so viele Flüchtlinge nach Deutschland kämen. Neugierig klicke ich das Video an. Ja, was sagen Menschen denn gerade im Kiez dazu?, frage ich mich. Zu dieser Zeit hat der Sommer gerade seine Höhe erreicht, genau so, wie die Willkommenskultur. Es werden Menschen ganz unterschiedlichen Alters befragt, alte wie junge, mit und ohne Migrationshintergrund. Auch ein türkischer Amca kommt zu Wort: „Ich will sie nicht. Sie bringen doch nur Dreck“, meint er, „Die Straßen werden schmutzig“. Ein etwas jüngerer Türke meint, er hätte es doch so schon schwer, eine Wohnung zu finden. Die Flüchtlinge würden das Problem nur verschärfen, ihnen die Wohnungen wegnehmen und überhaupt: „Die Immobilienwerte sinken!“ Mit offenem Mund starre ich auf den Bildschirm und wundere mich; erst über diese Menschen, dann darüber, dass ich mich wundere. Natürlich gibt es auch unter Türken Menschen, die besorgt sind und deren Sorgen man ernst nehmen muss – oder einfach nur Scheuklappen-Liebhaber, Vorurteil-Verfechter, Ignoranten und Rassisten. Dennoch: Ich hätte mehr von den Menschen erwartet, denen selbst oder deren Eltern vor nicht allzu langer Zeit und eigentlich auch heute noch die selben Vorbehalten entgegenschlugen: Der dreckige Kümmeltürke, den man nicht in der Nachbarschaft haben wollte, weil die eigene Immobilie an Wert verlor. Meine Familie hat lange selbst um unsere Daseinsberechtigung in der Nachbarschaft kämpfen müssen. Ich dachte immer, dass Verständnis und Mitgefühl immer dann besonders ausgeprägt sind, wenn man etwas am eigenen Leib erfährt; Mitgefühl kommt von selbst fühlen. Aber ich dachte wohl zu viel.

Ich bespreche das Thema beim Kaffee mit meiner Freundin. Schon das vierte oder fünfte Mal. „Ich war neulich im Kosmetiksalon. Du wirst nicht glauben, wie die libanesischen und palästinensischen Frauen dort über Flüchtlinge hergezogen sind!“, erzählt sie. „Sie wären ohnehin alle Schmarotzer, würden nur unser System ausnutzen, nichts von Demokratie halten und es wären tausende IS-Kämpfer unter ihnen.“ Ich starre wieder. Wenn selbst Araber über Araber so denken und im Schönheitssalon eine Atmosphäre herrscht wie sonst auf dem AfD-Parteitag, wie kann man dann Verständnis von ‚anderen‘ fordern? Da behaupte einer, Muslime seien nicht gut integriert. Irgendwann ist wohl auch zu viel des Guten. „Da kam genau in diesem Moment eine Frau herein, im Schlepptau ein junges syrisches Flüchtlingsmädchen, dem sie sich angenommen hatte. Plötzlich herrschte Totenstille im Salon. Da standen die gesammelten Vorurteile der Frauen in Form eines jungen Mädchens vor ihnen“, erzählt meine Freundin weiter. Wohl, weil sie wusste, dass nun alle zuhörten, stellte sie dem Mädchen fragen, darüber, woher sie kam, wie es dort war, wo sie herkam und was sie auf dem Weg hierher erlebt hatte. Eine nach der anderen stellten auch die anderen Frauen Fragen. Eine nach der anderen bot dem Mädchen ihre Unterstützung an, wenn sie etwas benötigen sollte.

Nun ist es leider nicht immer so, dass ein Flüchtling um die Ecke kommt, wenn wir uns gerade häuslich in unseren Vorurteilen eingerichtet haben und die Mauern zerbricht. Darum brauchen wir eine generelle Haltung, wie wir diesen Menschen begegnen wollen. Ein generelles Bewusstsein für unserer eigene Geschichte und unsere eigenen Vorurteile. Besorgte muslimische Bürger braucht unser Land nämlich gewiss nicht.

„Und jene, die vor ihnen in der Stadt wohnten und im Glauben (beharrten), lieben jene, die bei ihnen Zuflucht suchten, und finden in ihrer Brust keinen Wunsch nach dem, was ihnen gegeben ward, sondern sehen (die Flüchtlinge gern) vor sich selber bevorzugt, auch wenn sie selbst in Dürftigkeit sind. Und wer vor seiner eignen Habsucht bewahrt ist – das sind die Erfolgreichen.“ – Qur’an (59:9)

Ein Kommentar zu “Perfekt integriert: Der besorgte muslimische Bürger

  1. Bernard
    2. März 2016

    Die Moslems die bei uns leben sind dieselben Menschen wie wir, und deshalb haben sie auch dieselben Ansichten wie wir. Schau in den Spiegel, dort siehst Du dasselbe. Ob Du Dich selbst deshalb als Rassisten siehst, das bleibt Dir überlassen – ich und mein türkischer Nachbar, wir sehen uns nicht als solche.

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Dieser Eintrag wurde veröffentlicht am 25. Januar 2016 von in Allgemein und getaggt mit , , , , .
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